> Versteckte Dörfer in den Bergen der Provence

Villages perchés in Südfrankreich

09.08.2024
Bild & Text: Camping, Cars & Caravans

Die Berge Südfrankreichs bewahren kleine Schätze. CCC-Autor Paul Smit zeigt sein Dorf Roure und andere veritable Höhepunkte dieser Villages perchés.

Sie klammern sich spektakulär an Felshänge oder balancieren zierlich auf Bergkuppen – die Bergdörfer im Hinterland von Nizza, wo sich die Seealpen neigen und dem Meer entgegenstreben, um vermeintlich einzutauchen. Jahrhunderte waren die Dörfer der Provence schwer erreichbar und bildeten meist ihre eigene kleine Welt. Heute sind sie Kleinode, die es zu bewahren gilt.

Gelebte Geschichte – Saorge liegt uneinnehmbar an einem steilen Hang. Die wolkenkratzerartigen Häuser haben oft sieben Stockwerke. Zwischen den Zypressen taucht der Kirchturm von Sainte-Agnès auf.
Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk

Sainte-Agnès

Mit 760 Metern über dem Meeresspiegel ist Sainte-Agnès das höchstgelegene Küstendorf in Europa. Es wurde zum Schutz vor Überfällen der Sarazenen auf einem Berggipfel errichtet. Eigentlich liegt es eher hinter dem Gipfel, denn von der Küste aus kann man es nicht sehen.

Doch nicht seine Lage hielt die muslimischen Piraten auf, sondern das Dorfmädchen Anne, so sagt die Legende. Haroum, ein mächtiger Sarazene, war von ihrer Schönheit und ihrem tapferen Charakter derart betört, dass er ihre Bedingungen für eine Heirat akzeptierte: Er sollte die Piraterie aufgeben und sich zum Christentum bekehren.

Die Burgruine oben über dem Dorf stammt aus der Zeit nach der Sarazenenzeit. Der Blick auf die Ziegeldächer von der Treppe, die dorthin führt, ist wunderschön, aber die wahre Belohnung folgt oben im mittelalterlichen Garten neben der Burg. Von der terrassenförmig angelegten Grünanlage aus reicht der Blick bis zum Meer. Direkt vorn liegt die Stadt Menton, links die italienische Grenze, wo die Hauptkette der Seealpen ins Meer eintaucht – und rechts Cap Martin.

Eine Wolke schwebt am Horizont – nein, das ist Korsika! Kurz vor Sonnenaufgang ragt sie wie eine messerscharfe Kartellsilhouette über den Horizont, weil der Himmel dann klar ist. Sobald jedoch die Sonne erscheint, verdunstet das Meerwasser und die Insel verschwindet im Dunst. Sainte-Agnès ist dank seiner mit kleinen Natursteinen gepflasterten Straßen sehr malerisch. Nach Sonnenuntergang lässt es sich hier unter einem der hohen Bögen im Le P’tit Atelier angenehm verweilen. Die Weinbar von Ludo Coulon ist an Sommerabenden Treffpunkt der Dorfbewohner. Eine Terrasse gibt es nicht, man sitzt auf den Stufen unter dem ehemaligen Stadttor.

Saorge
Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk

Saorge

Wenn es ein Dorf gibt, das die Bezeichnung „Überflieger“ verdient, dann ist es Saorge. Auch im übertragenen Sinne, denn Saorge hatte hohe Ansprüche. An einem schwindelerregend steilen Hang stehen wolkenkratzerartige Häuser mit bis zu sieben Stockwerken. Es gibt sogar eine Stelle, an der man ein Haus unten betreten und dann dreizehn Stockwerke emporklimmen kann. Denn unbemerkt geht es von einem der unteren Gebäude über eine der überdachten Gassen zu einem höheren.

Das Dorf Peillon gleicht einem Adlerhorst und verdient den Namen Village perché – geschütztes Dorf – zu Recht. Dass Saorge eine wichtige Stadt war, zeigt die Église Saint-Sauveur.
Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk

Auch die früheren Bevölkerungszahlen verraten Saorges Ambitionen: Im Mittelalter hatte es mehr Einwohner als Menton und war nach Nizza die zweitgrößte Stadt der Grafschaft. Es lag günstig am leichtesten zu überwindenden Alpenpass hinüber ins Piemont und damit an der wichtigsten Salzstraße. Das Piemont war stark besiedelt, besaß aber kein Salz, während die Provence viel davon produzierte. Zu dieser Zeit passierten 10.000 mit Salz beladene Esel den Col de Tende, um 1700 sogar stolze 30.000!

Die hohen Ansprüche verflogen, als Salz leichter zu beschaffen war. Infolgedessen erstarrte Saorge in seinem damaligen Zustand. Für Besucher ist das ein Segen, denn heute ist es das authentischste Dorf der Alpes-Maritimes. Seine verfallene Schönheit zog in den 1970er-Jahren die Babacools an, französisch für romantisch veranlagte Hippies.

Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk
Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk

Doch im Gegensatz zu anderen Orten, an denen dies geschah, hat es sich nicht zu einer Touristenattraktion entwickelt. Stattdessen gibt es von Gewölben überdachte, oft meterlange Gänge. Viele Gassen sind eher Treppen, so steil ist der Hang, an dessen Flanken sich Saorge klammert. Es ist wunderbar, durch dieses Labyrinth zu schweifen und dann plötzlich einen schönen Blick auf Saorge zu haben, das wie ein Amphitheater über dem Tal schwebt.

Die beste Aussicht hat man entlang des Weges unterhalb des Franziskanerklosters. Übrigens leben dort heute keine Mönche mehr, sondern Schriftsteller, die für ihr künstlerisches Schaffen Abgeschiedenheit suchen. Auch im Dorf kommen Literatur und Religion zusammen: Die Bibliothek befindet sich in einer Kapelle, mit Büchern auf dem barocken Altar. Und Saorges einziges Teehaus ist zugleich eine Buchhandlung.

Peillon

Das Klischee des Adlernestes ist im Falle von Peillon nicht übertrieben. Das Dorf klammert sich an einen steilen Kalksteingipfel, die Architektur hat sich seit dem Mittelalter nicht verändert und Autos kommen nicht in die Gassen. Ohne Laden oder Café ist es eher ein Dorf für Einheimische als für Touristen, und genau das macht den Reiz von Peillon aus.

In den Gassen der Villages perchés gibt es nach jeder Kurve eine Überraschung. Hier in Peillon ist es ein Labyrinth aus Gassen, Treppen und Torbögen.
Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk

Die „unbezwingbaren“ Hügelstädte wie Sainte-Agnès und Saorge wirkten während der Kriege wie Magnete auf die Armeen, sie wurden eingenommen oder ausgehungert. Peillon entrann diesem Schicksal im Laufe der Geschichte, vielleicht weil es so uneinnehmbar aussah. Es war immer das größere, nicht auf einem Gipfel gelegene Nachbardorf Peille, das zu leiden hatte.

Peillon fleht geradezu darum, die mit Blumen dekorierten Gassen und kleinen Hoftore zu erkunden. Ganz oben erreicht der Besucher die Kirche und den einzigen Platz des Dorfes. Er bietet einen herrlichen Ausblick auf die umliegenden Berge und sogar einen Teil der Küste. Unten am Parkplatz, außerhalb des Dorfes, steht die Chapelle des Pénitents Blancs mit ihren spätmittelalterlichen Wandmalereien. Sie stammen von Giovanni Canavesio, der für seine „Sixtinische Kapelle der Alpen“ in La Brigue, unweit von Saorge, berühmt ist.

Peillon mag vielleicht keine Geschäfte oder Cafés haben, aber es gibt hier ausgezeichnetes Essen. Neben der Kapelle liegt die Auberge de la Madone, mit Restaurant (L’Authentique) und Bistro (Table d’Augustine). Von der Terrasse schauen Gäste auf das alte Peillon und genießen die Küche von Thomas Millo, der das Restaurant vor einigen Jahren von seinem Vater übernommen hat. Vater Christian mischt aber immer noch in der Küche mit. Im Laufe seiner Geschichte von jetzt drei Generationen hat das Restaurant mal einen, mal keinen Michelin-Stern erhalten. Nun will es wieder einen ergattern.

Lucéram liegt auf einem Kamm zwischen zwei Flüssen, dem Paillon und dem Ruisseau de Fanavel. Die Stadtmauer mit dem Tour ouverte à la gorge, dem Turm mit dem offenen Hals. Der Lieblingspunkt des Autors ist der Mont Autcellier oberhalb von Roure.
Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk

Lucéram

Bevor Urlauber ins Dorf wandern, sollten sie zunächst die Straße in Richtung Col Saint-Roch nehmen und das Auto an der zweiten Haarnadelkurve parken – allein schon wegen des herrlichen Blicks aus den Olivenhainen auf Lucéram. Es liegt auf einem Bergrücken zwischen zwei kleinen Flüssen, die unterhalb des Dorfs zusammenfließen, und wird von den steilen, felsigen Ufern entlang der Bäche geschützt. Die dritte Seite des Dreiecks ist durch eine noch vorhandene Stadtmauer gesichert.

Nachdem wir das Auto geparkt haben, betreten wir Lucéram durch das Stadttor. An der Ecke der Stadtmauer ragt ein Turm empor, der von außen aussieht wie aus einem Schachspiel: rund, massiv und mit Zinnen gekrönt. Vom Dorf aus gesehen aber scheint der Hals des Turms der Länge nach aufgeschnitten zu sein. Daher auch sein Name: Tour ouverte à la gorge. Belagerern gelang es bisweilen, einen solchen Turm zu erobern. Sie hatten dann freie Schusslinie auf das gesamte Dorf. Durch den „offenen Hals“ hatte aber auch das Dorf die Eroberer im Visier.

Wie Saorge, verdankte auch Lucéram seinen Wohlstand dem Salz. Als ein örtlicher Graf die Route über Saorge abriegelte und exorbitanten Zoll verlangte, suchten die Grafen von Savoyen nach einer alternativen Route von ihrem Hafen Nizza aus ins Piemont. Die Wahl fiel auf die Route über Lucéram. An der Kirche spiegelt sich die nachfolgende Zeit des Wohlstandes: Sie ist nicht nur bemerkenswert groß, auch die Kunstwerke in ihrem Inneren sind von hoher Qualität. Das Altarbild wurde von Ludovico Bréa gemalt, dem berühmtesten Vertreter der Schule von Nizza, die sich die Regeln der Frührenaissance von flämischen Malern wie Jan van Eyck abgeschaut hatte.

Lucéram ist ein Labyrinth aus kleinen Gassen, von denen die meisten auf La Placette, dem schönsten kleinen Platz, zusammenlaufen. Dort treffen wir Alain Clement, der aus seinem Haus kommt, um den Hund auszuführen. „Nizza wurde mir seit ich im Ruhestand bin viel zu hektisch. Hier ist es ruhig, die Luft ist sauber und weniger stickig.“ Er zeigt auf sein Haus über einem gotischen Tor. „Einst war es ein Teil des ‚Palastes‘, des Wohnsitzes des örtlichen Herren. Jetzt fühle ich mich hier selbst wie ein feiner Herr!“

Roure in der Provence
Foto: Paul Smit und Mick Palarczyk

Roure

Roure liegt viel tiefer im Hinterland. Die Balkonlage ist magisch: 650 Meter über dem Zusammenfluss von Vionène und Tinée schaut das Dorf über den weiteren Verlauf des Tinée-Tals. Charakteristisch ist auch das allgegenwärtige Plätschern von fließendem Wasser. Es kommt von einem alten, acht Kilometer langen Kanal, der teilweise in den Berghang gehauen wurde und der sich oberhalb des Dorfes in kleinere Kanäle verzweigt, um die Gemüsegärten zu bewässern. Die Aussicht und das Plätschern des Wassers waren ausschlaggebend für meine Entscheidung, 1998 hierher zu ziehen.

Es gibt zwar im Dorf keinen Laden, aber am Wochenende kommt Gégène, heizt mit einem großen Stapel Lärchenholz den Dorfofen ein und backt am Samstagabend Pizza. Sonntagmorgens gibt es frische Croissants, Schokobrötchen und natürlich Baguette. Hier wird der Dorfklatsch ausgetauscht, denn Roure hat kein Café. Dafür aber hat es ein Gourmet-Restaurant – mit demselben Blick über das Tinée-Tal – emsig geführt von Déborah, 26 Jahre jung. Es sind vor allem Küstenbewohner, die zum Essen herkommen. In ihrer Auberge Lo Robur können sie aber auch übernachten.

Roure befand sich zeitweise in einer Abwärtsspirale, vor allem weil die ältesten Bewohner starben. Doch in letzter Zeit bewegt sich wieder etwas. Im Alter von 50 Jahren tauschte Estia einen stressigen Job als Chefsekretärin in Marseille gegen den Anbau von Erdbeeren und Himbeeren in Roure. Und eine Gruppe von Leuten um die 40, die hier aufgewachsen sind, kehrt nun fast jedes Wochenende zurück, um die Wassermühle zu renovieren und Weizen anzubauen, der dort gemahlen wird. Für Gégène und seinen Holzofen, versteht sich. Und das mit der Wasserkraft des Kanals.

Ein kurzer Anstieg führt zum Arboretum. Als botanischer Garten der Bergbäume gedacht, ist er vor allem durch das Zusammenspiel mit der darin enthaltenen Landschaftskunst interessant. Eine richtige Bergwanderung führt uns auf das Plateau von Longon, wo die gleichnamige Berghütte renoviert wird, sodass Wanderer wieder das gemütliche Mittagessen auf diesem blumenreichen Plateau im Herzen des Nationalparks Mercantour genießen können. Ich lebe also seit über 20 Jahren in einem village perché am Ende einer Sackgasse. Bedauern? Es war die beste Entscheidung!

Bildergalerie

Roubion

Das höchstgelegene der Dörfer der Provence in dieser Reihe ist Roubion auf 1.330 Metern. Im Winter ist es auch das kälteste, das einzige, wo das Klima nicht mediterran, sondern alpin ist. Es hat sein eigenes Skigebiet – Les Buisses – mit einer ruhigen, familiären Atmosphäre. Es hat dazu beigetragen, das alte Dorf zu erhalten. Die zusätzlichen Einnahmen sowie die Tatsache, dass es nicht an einer Sackgasse, sondern an der Hauptroute zu den Pisten und dem Col de Coulliole liegt, haben Roubion wieder aufleben lassen.

Im alten Kern gibt es jetzt zwei Restaurants mit gemütlichen Terrassen: Chez Joëlle am Ortseingang, mit herrlichem Blick, und das Bistrot de pays Auberge du Moulin im hinteren Teil, wo nach einem Tunnel der größte Parkplatz zu finden ist. Manu und Marie-France von Le Moulin betreiben auch eine kleine Épicerie, nicht unwichtig, da der nächste Supermarkt eine halbe Stunde Autofahrt entfernt ist.

Es ist ein angenehmer Spaziergang durch die malerischen Straßen von Roubion, unter Toren hindurch und die Treppen hinauf. Die Architektur ist hier weniger „italienisch“ – also ligurisch – geprägt als in Saorge, Sainte-Agnès oder Lucéram; weiter westlich in den Alpes-Maritimes schleichen sich einige provenzalische Elemente ein. Es gibt einen schönen hängenden Garten, flankiert von dem runden Turm eines Taubenschlags. Genau wie Roure hat es eine Saint-Sébastien-Kapelle mit schönen spätmittelalterlichen Fresken. Mir gefallen in Roubion die lackierten Türen am besten.

Die Künstlerin Imelda Bassanello, eine Italienerin aus Savona, hat seit Jahren ein kleines Haus in Roubion. Hier findet sie Ruhe, saubere Luft und angenehme Temperaturen im Sommer. 2009 kam ihr die Idee, die Holztüren und Fensterläden von Roubion zu bemalen, was sie bereits in kleinerem Umfang in Vallecrosia, Italien, ausprobiert hatte. Den Bewohnern gefiel die Idee sofort und sie boten ihre Türen und manchmal auch die Geschichten hinter diesen Türen an. Imelda übersetzte dies in farbenfrohe Vignettes. Trotz der nostalgischen Szenen verfallen sie nicht in Kitsch. Sie verströmen eine aufrichtige Freude am Leben. Geht man durch die Straßen, spürt man selbst im Winter die Wärme.

Infobox

Adressen und Infos

Sainte-Agnès

Saorge

  • Restaurant Osteria Lou Pountin (italienische Küche), 59 rue Revelli, Tel.: 0033-49304/5490
  • Bistro La Petite Épicerie (französische Küche), 68 rue Revelli, Tel.: 0033-96738/1083
  • Teehaus in der Buchhandlung Librairie du Caïros, Place Ciapagne

Peillon

Lucéram

  • Die Auberge de la Madone in Peillon ist auch ein guter Ausgangspunkt für Lucéram.

Roure

Roubion

Campingmöglichkeiten in der Region

Der am besten gelegene Platz für Besuche in Saorge (32 km), Peillon (38 km), Sainte-Agnès (31 km) und Lucéram (26 km):

Camping Domaine Sainte-Madeleine, 3803 Route de Moulinet, F-06380 Sospel

In der Nähe von Sainte-Agnès:

Camping La Giandolla, 44 Chemin du Doyen Rochard, F-06500 Gorbio

In der Nähe von Saorge:

Camping Le Pra Réound, Chemin de Saint Jean, F-06430 La Brigue

Camping Municipal St Jacques, Vallée de la Pia, Quartier Campileggio, F-06430 Tende, geöffnet von 14. Juni bis 7. September

In der Nähe von Peillon:

Camping de la Laune, 3724 boulevard de la Vallée, F-06440 Peillon

In der Nähe von Lucéram: (auch für Peillon)

Camping La Ferme Riola, 5309 Route de Sclos, F-06390 Contes

In der Nähe von Roure und Roubion:

Camping Le Cians Route du col de la Couillole, F-06470 Beuil

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